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Kolumne
Bin ich als Gründerin meine eigene schlimmste Chefin?
Episode
Date
December 2, 2025
Autor:in
Ann-Katharin Lorenzen
Duration
5 Minuten

Ann-Katharin Lorenzen ist Arbeitspsychologin, systemische Coachin und Dozentin. Mit eigener Gründungserfahrung baut sie eine Brücke zwischen mentaler Gesundheit und Unternehmertum. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Burnout-Prävention – stets mit Blick auf das gesamte System: Team, Organisation und familiäres Umfeld. Denn mentale Belastung entsteht selten isoliert im Gründungsalltag, sondern ist häufig das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen Rollen, Erwartungen und strukturellen Rahmenbedingungen.

Episode

37

Tagebuch einer Psychologin

Bin ich als Gründerin meine eigene schlimmste Chefin?

Es gibt eine Ironie, über die im Gründer:innen-Alltag selten gesprochen wird: Wir verlassen Strukturen, Grenzen und Hierarchien, weil wir frei sein wollen und finden uns plötzlich in einem Arbeitsverhältnis wieder, das härter ist als jedes Angestelltenverhältnis, das wir je hatten.

Nur dass der strenge Chef diesmal wir selbst sind. Viele Gründer:innen und Selbstständige kennen diesen inneren Dialog: 

„Nur noch diese eine Aufgabe.“ 

„Ich habe heute nichts geschafft.“

„Es geht doch noch besser.“

Es klingt motivierend. Es klingt nach Ehrgeiz. Aber manchmal klingt es auch nach einer Stimme, die kein Ende kennt. Psychologisch gesehen ist dieser innere Chef oft eine Mischung aus alten Mustern, internalisierten Erwartungen und dem Wunsch, der eigenen Vision gerecht zu werden. In der systemischen Perspektive würden wir sagen: Es ist ein inneres Rollenmodell, das wir geschaffen haben und das wir oft unbewusst autorisieren.

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Der strenge Chef in uns 

Diese innere Figur hat klare Vorstellungen: Sie erwartet Verfügbarkeit, Leistung, Perfektion.

Sie duldet kaum Pausen. Sie kommentiert Fehler lauter als Erfolge.

Und wenn wir ehrlich sind: Viele Gründer:innen wären sofort kündigungsreif, würden sie im Außen so geführt werden, wie sie sich selbst führen.

Doch hier passiert etwas Spannendes: Wir funktionieren für diesen inneren Chef, weil wir glauben, er halte uns im Spiel. Dass ohne ihn alles zusammenfällt. Dass die Vision stehenbleibt, wenn wir anhalten. Das ist ein verbreitetes Missverständnis.

In der Psychologie nennen wir es „Kontrollillusion“, die Vorstellung, dass nur durch permanente Anspannung etwas gelingt. In Wahrheit erzeugen wir damit eine innere Unternehmenskultur, die langfristig niemand tragen kann – auch wir nicht.

Die systemische Dynamik: Wenn Chef:in und Mitarbeiter:in dieselbe Person sind

Im systemischen Denken betrachten wir nicht nur das Individuum, sondern die Wechselwirkungen.

Und hier entsteht ein Paradox: Wenn wir gleichzeitig Visionär:in, Mitarbeiter:in, Chef:in und ganz nebenbei auch Mensch sein sollen, entsteht ein Rollenkonflikt, den kein Organigramm der Welt lösen könnte.

Die Folge? Eine innere Schieflage: Die Chefin fordert grenzenlose Leistung. Die Mitarbeiterin überfordert sich.

Die Visionärin brennt aus. Und der Mensch bleibt auf der Strecke. Wir führen uns selbst oft mit weniger Mitgefühl als jede andere Person. Vielleicht, weil wir denken, wir müssten „es schaffen“. Vielleicht, weil wir uns beweisen wollen. Oder weil wir in uns unbewusste Stimmen tragen, die Leistung zur Bedingung für Wert machen.

Der Wendepunkt

Selbstführung bedeutet nicht, die innere Chefin loszuwerden. Es bedeutet, sie zu integrieren. Ihr einen realistischen Platz zu geben, nicht den Thron. Wenn wir beginnen, uns als Ganzes zu sehen, inklusive der Anteile, die Ruhe brauchen, Zweifel haben oder nicht perfekt funktionieren, entsteht eine neue Form von Führung: eine, die trägt, statt treibt.

Drei systemische Reflexionsfragen für Gründerinnen

1. Welche innere Stimme führt mich gerade und ist sie wirklich hilfreich für das, was ich langfristig erreichen möchte?

2. Welche Rolle in mir bekommt aktuell zu viel Macht (Chef:in, der Perfektionist:in,

der Antreiber:in)? Und welche Rolle kommt zu kurz (Visionär:in, Kreative, Erholte)?

3. Wenn ich ein:e echte:r Mitarbeiter:in von mir wäre: Wie würde ich geführt werden wollen – und wie weit bin ich davon entfernt?

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