
Ann-Katharin Lorenzen ist Arbeitspsychologin, systemische Coachin und Dozentin. Mit eigener Gründungserfahrung baut sie eine Brücke zwischen mentaler Gesundheit und Unternehmertum. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Burnout-Prävention – stets mit Blick auf das gesamte System: Team, Organisation und familiäres Umfeld. Denn mentale Belastung entsteht selten isoliert im Gründungsalltag, sondern ist häufig das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen Rollen, Erwartungen und strukturellen Rahmenbedingungen.
Episode
23
Zwischen Aufbruch und Erschöpfung
Wer gründet, ist oft voller Energie, Visionen und Tatendrang. Es geht um Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und den Willen, etwas zu bewegen. Doch genau dieser Antrieb kann schnell zum Verhängnis werden. Denn Gründung bedeutet nicht nur Kreativität und Innovation, sondern auch Dauerbelastung, Unsicherheit, hohe Eigenverantwortung und oft chronische Überforderung. In dieser dynamischen und fordernden Phase lohnt sich ein genauer Blick auf das Burnout-Modell von Herbert Freudenberger (1974) – insbesondere auf seine zwölf Phasen der Erschöpfung, die sich erstaunlich präzise auf die emotionale Entwicklung während einer Gründung übertragen lassen.
Die emotionale Dynamik in der Gründungsphase
Gründung beginnt meist mit Begeisterung und hohem inneren Antrieb. Man will etwas beweisen – sich selbst, dem Markt und der Familie. Es ist die sogenannte „Honeymoon-Phase“: voller Energie, Leidenschaft und Ideen.
Doch diese Anfangseuphorie bringt oft mit sich, dass alles andere in den Hintergrund rückt – Schlaf, Ernährung und soziale Kontakte. Arbeitstage verschwimmen mit Wochenenden, Pausen werden als Schwäche empfunden. Genau hier beginnt der Teufelskreis, den Freudenberger als erste Phase eines schleichenden Burnout-Prozesses beschreibt: den Zwang, sich beweisen zu müssen.
Freudenbergers 12 Phasen des Burnouts – und wie sie Gründer:innen betreffen
Das Modell von Freudenberger beschreibt den Verlauf von Erschöpfung in zwölf aufeinanderfolgenden Phasen – von einem überhöhten Leistungsanspruch bis zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Viele Gründer:innen durchlaufen diesen Zyklus unbewusst.
- Zwang, sich zu beweisen – „Ich muss es allen zeigen.“ Der innere Leistungsdruck steigt, besonders in der Startphase.
- Verstärkter Einsatz – längere Arbeitszeiten, keine Pausen, permanente Erreichbarkeit.
- Vernachlässigung eigener Bedürfnisse – Schlaf, Ernährung, Bewegung, Erholung: alles wird zweitrangig.
- Verdrängung von Konflikten – erste Warnsignale (z. B. Gereiztheit, Fehlerhäufung) werden ignoriert.
- Umdeutung von Werten – Freizeit und Freundschaften verlieren an Bedeutung.
- Leugnung von Problemen – Verantwortung wird abgegeben: „Das liegt am Markt, nicht an mir.“
- Rückzug – Kontakte werden reduziert, Gespräche oberflächlicher. Der soziale Rückhalt schwindet.
- Verhaltensänderung, andere machen sich Sorgen – nahestehende Personen bemerken, dass „etwas nicht stimmt“.
- Depersonalisierung – man funktioniert nur noch, distanziert sich emotional von Team, Kund:innen und Produkt.
- Innere Leere – selbst Erfolge fühlen sich sinnlos an, Kompensation über Alkohol, exzessiven Sport oder Ablenkung.
- Depression – Hilflosigkeit, Sinnkrise, emotionaler Stillstand.
- Völliger Zusammenbruch – Körper und Psyche machen nicht mehr mit.
Viele dieser Phasen sind Gründer:innen vertraut – auch wenn sie sie nicht beim Namen nennen können. Studien zeigen, dass bis zu 72 % aller Start-up-Gründer:innen Symptome eines Burnouts erleben (Startup Snapshot, 2023; Danielson, 2025). Die emotionale Belastung ist hoch, und die Gratwanderung zwischen Begeisterung und Erschöpfung ist schmal.
Gründungspsychologie: Warum das Risiko so hoch ist
Gründungen folgen oft einem idealisierten Narrativ: Wer viel gibt, bekommt viel zurück. Doch genau dieses „All-in“-Denken birgt Gefahren. Viele Gründer:innen haben eine hohe intrinsische Motivation, ein starkes Verantwortungsgefühl und den Drang zur Kontrolle. In der Psychologie spricht man hier u. a. von Overcommitment (Steptoe et al., 2004) und emotionaler Überinvolvierung (Frontiers in Psychology, 2022). Beides erhöht die Wahrscheinlichkeit für Burnout signifikant.
Zudem fehlt häufig eine klare Trennung zwischen „Ich“ und „Unternehmen“. Wer das eigene Start-up als Spiegel der eigenen Identität sieht, reagiert besonders empfindlich auf Kritik, Rückschläge oder notwendige Kurskorrekturen (sogenannte Pivots). Der mentale Druck steigt, wenn wirtschaftliche Herausforderungen zugleich als persönliches Versagen empfunden werden.
Drei psychologische Fachbegriffe im Gründungskontext
Founder Burnout: Ein durch chronische Überlastung ausgelöster Zustand psychischer, emotionaler und körperlicher Erschöpfung. Tritt häufig bei Gründer:innen auf, die über längere Zeit alle Ressourcen dem Business unterordnen.
Depersonalisierung: Entfremdung vom eigenen Tun, oft begleitet von Zynismus oder Gleichgültigkeit. Gründer:innen agieren nur noch funktional, ohne Bezug zum ursprünglichen Sinn.
Founder Loneliness: Das Gefühl der Isolation trotz Team oder Community – oft ausgelöst durch das Gefühl, allein für alles verantwortlich zu sein.
Was Gründer:innen präventiv tun können
Der Schlüssel liegt nicht in weniger Engagement, sondern in bewusster Selbststeuerung. Fünf wirksame Ansätze aus der Präventionspraxis:
- Selbstbeobachtung: Frühzeitig Anzeichen von Überlastung erkennen – Schlaf, Ernährung, Stimmung, Konzentration, sozialer Rückzug.
- Strukturierte Pausen: Regelmäßige Offline-Zeiten, klare Grenzen zwischen Arbeit und Erholung.
- Soziale Anbindung: Austausch mit Gleichgesinnten, Mentoring, offene Gespräche über Belastungen.
- Priorisierung & Delegation: Nicht alles selbst machen, Fokus auf das Wesentliche.
- Professionelle Unterstützung: Coaching, Supervision oder psychologische Begleitung – nicht erst wenn es zu spät ist.
Gründen ist ein Abenteuer – mit Höhen, Tiefen und enormem persönlichen Einsatz. Doch gerade, weil die Motivation so hoch ist, besteht das Risiko, die eigenen Grenzen zu übersehen. Freudenbergers Stufenmodell dient nicht der strikten Diagnose, sondern der sensiblen Früherkennung psychischer Überlastung. Es zeigt, wie schleichend sich Erschöpfung entwickeln kann – und dass jede Phase auch eine Einladung zur Umkehr ist. Wer achtsam mit sich selbst umgeht, schützt nicht nur die eigene Gesundheit, sondern sichert auch langfristig die Stabilität und Innovationskraft seines Unternehmens.